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GROPIUS BAU
JOURNAL
“The Event of a Fibre”
by Regine Hengge
and Karin Krauthausen
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Weben sollte, wie Anni Albers wusste, nicht als einfache menschliche Handlung gesehen werden, sondern vielmehr als eine sich entwickelnde Begegnung mit den sich ständig entfaltenden materiellen Möglichkeiten des Fadens. Was aber, wenn wir die fadenähnlichen Makromoleküle betrachten, die die Grundlage allen Lebens auf unserem Planeten sind? Der Blick in Nano- und Mikrowelten offenbart komplexe fadenförmige Architekturen, mikrobielle Städte, die für das vernetzte irdische Überleben unerlässlich sind – und die Modelle für unsere eigenen zukünftigen Ökologien liefern können. [...]
In ihrer Auseinandersetzung mit dem Fadenmaterial und den Techniken des (Ver-)Webens erfasst Albers ein fundamentales Prinzip. Die Eigenschaften und Funktionen des komplexen Webprodukts entstehen in einem Wechselspiel zwischen den Techniken und Mustern einerseits und den Eigenschaften der basalen Materialelemente andererseits. Hier gestaltet also nicht ein aktives Subjekt – der*die Webende – ein passives Material zu einem ebenso passiven fertigen Produkt, sondern das Material und die es kennzeichnenden Strukturen entscheiden mit, indem sie Möglichkeiten eröffnen und zugleich einschränken, auf welche der*die Webende gestaltend antwortet. Auch in der Natur werden über alle Skalen hinweg fädige Grundelemente zu Fasern, Fibrillen und Filamenten gesponnen, die wiederum zu dreidimensionalen Strukturen verwoben werden. Das ganze Leben auf unserem Planeten beruht auf fadenförmigen Makromolekülen, die die Grundbestandteile aller Zellen darstellen, gleichgültig ob es sich um einzellige Bakterien oder unsere eigenen Zellen handelt. DNA, RNA, Proteine und Polysaccharide – der Stoff, aus dem Leben entsteht und besteht – sind prinzipiell eindimensionale Polymerketten von sich wiederholenden kleinen Molekülbausteinen, „gesponnen“ von Enzymen, die ihrerseits energiegetriebene molekulare Maschinen aus dreidimensional gefalteten Proteinen darstellen.
Auf dieser kleinsten Skala, in der Nanowelt, ist die Eigenaktivität und Selbstorganisation der Materie der entscheidende Faktor bei der Assemblierung zu funktionellen Einheiten. Die Grundlage hierfür ist das inhärente thermische Vibrieren, das die Moleküle den Raum erkunden lässt, die sogenannte „Brownsche Molekularbewegung“, sowie die Möglichkeit, über struktural determinierte molekulare Interaktionen tiefere Energieniveaus zu erreichen. So ergibt sich die Struktur der berühmten, aus zwei DNA-Fäden zusammengesetzten Doppelhelix aus der Struktur ihrer Bausteine (Nukleotide) und aus deren Fähigkeit, durch Basenpaarung stabil miteinander zu wechselwirken. Neu synthetisierte Proteinketten falten sich spontan zu dreidimensionalen Makromolekülen aufgrund der vielen Interaktionen zwischen ihren wie Perlen aufgereihten Bausteinen (Aminosäuren). Die bei dieser Faltung aktiv helfenden Proteine, die sinnigerweise Chaperone (engl. für Anstandsdame) genannt werden, fördern und beschleunigen dabei nur die im „Material“ der Proteinkette mit ihrer spezifischen Aminosäuresequenz bereits angelegten möglichen Wechselwirkungen. Diese führen zu hoher Stabilität des fertig gefalteten Proteins, welches in dieser Form dann zum Beispiel als Enzym oder als Teil einer molekularen Maschine, die wiederum Proteine herstellt, in der umgebenden Zelle tätig wird. Die molekularen Maschinen stellen sich also selbst her.
Auf der nächsthöheren Ebene, der Mikroskala, werden die Zellen zu den gestaltenden Subjekten. Mit Hilfe energiegetriebener Makromolekül-Verbindungen, sogenannter molekularer Maschinen, können sie im Zellinneren Proteine und Polysaccharide nicht nur herstellen, sondern diese auch durch die Zellwand hindurch an ihre Oberflächen transportieren. Im Fall der Polysaccharide werden diese molekularen Fäden dort zu miteinander verdrehten Fibrillen versponnen und diese wiederum zu zweidimensionalen, also flächigen oder auch zu dreidimensionalen Netzen verwoben, die die Zellverbände zusammenhalten und schützen. Ein prominentes Beispiel ist die Zellulose, eines der häufigsten Biomoleküle – das übrigens auch in Holz, Baumwollstoffen und Papier steckt und der Ausgangsstoff für die Produktion von Zelluloid war, dem langjährigen Material für Filmrollen. Mit Hilfe des Zellulose-Materials konnten Bakterien und Pflanzen das Verweben von Polysaccharidfäden perfektionieren (Abb. 1). Auch bereits dreidimensional gefaltete Proteinmoleküle werden an den Zelloberflächen wiederum zu langen Fasern oder Filamenten zusammengesetzt. Diese sind zu weiteren Interaktionen fähig und ermöglichen die Adhäsion der Zellen aneinander, also eine mechanische „Verklebung“ der Zellen zu „Geweben“. [...]
Wir denken unsere Produkte und Kreationen allein über die rationale und ökonomische Konstruktion, anstatt sie auf unsere kollektive und individuelle Existenz zu beziehen, die nicht ohne die Einbettung in Umwelten zu verstehen ist.
Wechselt man also von der Nano- und Mikroebene der Moleküle und Zellen auf unsere makroskopische Skala, was sieht man? Weben ist eine Kulturtechnik und zudem eine der ältesten der Menschheit. Sie geht der Schrift lange voraus und gehört zu jenen händischen Tätigkeiten, die instrumentelle Zwecke (schützende Hülle) und symbolische Bedürfnisse (Schmuck, Identifikation, Kommunikation), aber auch epistemische Neugier (Mathematik) verbinden konnten. Der gewebte Stoff isolierte vor unbehaglichen Temperaturen, er schmückte und ließ unter Umständen Rückschlüsse auf die soziale Position der Träger*innen oder die Identität der Weber*innen zu. Zudem verlangte das Weben der Muster ein „Zählen“ der Fäden schon vor der Erfindung der Zahl.[Fußnote] Die Etymologie bewahrt noch heute die Erinnerung an die umfangreiche Bedeutung des Webens, so etwa im Begriff „Text“, der auf das lateinische Verb texere und damit auf die Tätigkeit des Webens und Flechtens (sowie im weiteren Sinn das Anzetteln, Zusammenfügen und Verfassen) zurückverweist. Doch die Kulturtechnik des Webens sowie die Techniken, die ihr vorausgehen oder sie begleiten (Fasermaterial kultivieren und zu Fäden spinnen, aber auch das Flechten von Körben sowie später das Nähen und Zuschneiden) sind in westlichen Konsumgesellschaften nicht mehr alltäglich. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und die Globalisierung der Märkte im 20. Jahrhundert haben das Weben hier zur Leistung von Maschinen und das Textil zu einer kurzlebigen Massenware gemacht, die in anderen Gesellschaften (und durchaus auf deren Kosten) preisgünstig produziert wird. Wir kaufen Kleidung, aber weben und verarbeiten Stoff nur selten selbst (außer im Kunstbereich) – das charakterisiert arbeitsteilig organisierte und durchkapitalisierte moderne Gesellschaften. Von den Fasern und Fäden wissen wir im Allgemeinen nur, was wir im Endprodukt mit bloßem Auge und zumeist ohne Wissen über die Herstellung erkennen. Wie sich die Faser beim Spinnen und der Faden beim Weben verhält, welche Eigenschaften seine materiale Struktur in den Prozess des Webens und den resultierenden Stoff einbringen, können wir kaum noch „erspüren“. Material ist im 21. Jahrhundert weniger ein Produkt der Kultivierung denn der Synthese, ob als billiges Plastik- oder avanciertes Hochleistungsmaterial, ob zu Wegwerfprodukten oder zu komplexen Forschungsanwendungen verarbeitet, ob in Form eines Nanopartikel-bewehrten Putztuchs oder eines Quantencomputers. [...]
Um Aufmerksamkeit für die Textur eines gewirkten Materials – seine stoffliche Qualität – zu entwickeln, bedarf es einer Aktivität der Sinne und des Intellekts. Diese ist der Person, die „wirkt“ – also „macht“ – selbstverständlich.[Fußnote] Das händische Herstellen weiß implizit und explizit um die Stofflichkeit der Formgebung, dem was Tim Ingold „textility of making“ (Textilität der Herstellung) nennt und explizit am Beispiel des Webens vorstellt.[Fußnote] Auf dem Spiel steht hier nicht das Handwerk per se, sondern eine andere „Ökologie des Lebens“, so der Anthropologe.[Fußnote] Wir denken unsere Produkte und Kreationen allein über die rationale und ökonomische Konstruktion, anstatt sie auf unsere kollektive und individuelle Existenz zu beziehen, die nicht ohne die Einbettung in Umwelten zu verstehen ist. Das organische Leben, das die Molekularbiologie beschreibt, kennt mit der DNA zwar einen Bauplan, aber es entsteht, besteht und wächst nur in Wechselwirkung mit anderem – ob anderem Leben oder „toter“ Materie. Organismus und Umwelt sind im strengen Sinne nicht zu trennen, die Aktivität ist ge- und verteilt, da beide nur in einem interdependenten Prozess mit prinzipiell offenem Ausgang bestehen können. Der Organismus vermag „webend“, „flechtend“ und „filzend“ die Ströme an Material und Energie zu orchestrieren, die durch ihn hindurchgehen und ihn am Leben erhalten, aber er verändert damit eben auch, was ihn umgibt und muss dann mit den Reaktionen und Transformationen dieser Umwelt auskommen. Und so ist die Anerkennung und praktische Erfahrung der Aktivität des uns umgebenden und von uns verarbeiteten Materials wohl auch eine Voraussetzung zu unserer eigenen heilsamen Anbindung und dringend nötigen Wiedereingliederung in die aktiven materiellen Kreisläufe auf unserem Planeten.
translation Weaving, as Anni Albers knew, should be seen not through the lens of simple human agency but rather as an evolving encounter with thread’s constantly unfolding material potentialities. But what if we consider the thread-like macromolecules that are the basis of all life on the planet? Peering into nano- and micro-worlds reveals complex threaded architectures, microbial cities that are essential to inter-woven earthly survival—and which can provide models for our own future ecologies. [...] |
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GROPIUS BAU
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“The Event of a Fibre”
by Regine Hengge
and Karin Krauthausen
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excerpt Weaving, as Anni Albers knew, should be seen not through the lens of simple human agency but rather as an evolving encounter with thread’s constantly unfolding material potentialities. But what if we consider the thread-like macromolecules that are the basis of all life on the planet? Peering into nano- and micro-worlds reveals complex threaded architectures, microbial cities that are essential to inter-woven earthly survival—and which can provide models for our own future ecologies. [...] |
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