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EENWERK
Martin Margiela:
Self-Portraits, 2022
“Protection / Projection”
by Friedrich Meschede
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James Joyce veröffentlichte im Jahre 1929 unter dem Titel Tales Told of Shem and Shaun: Three Fragments from Work in Progress bei Black Sun Press in Paris, ein wichtiges Buch, weil es Literatur als Fragment und Prozess definiert. Der Publikation ist im Frontispiz ein aufschlussreiches Porträt des Autors von Constantin Brancusi vorangestellt, das wohl als das früheste abstrakte Porträt einer Persönlichkeit bezeichnet werden kann. Constantin Brancusi stellt James Joyce in drei vertikalen Linien unterschiedlicher Länge in Kombination mit einer Spirale im rechten Bildbereich dar, die sich im Uhrzeigersinn nach Innen dreht. Eine konkrete Person ist ausschließlich mit nicht-figurativen Formen repräsentiert. Selbst innerhalb des Werkes von Brancusi geht das Porträt von Joyce in dieser radikalen Darstellung über die Abstraktion einer Kopfform hinaus. Gleichwohl erfasst die Grafik von Brancusi den Charakter von Joyce: Das Offene, endlich-unendlich Fragmentarische in den Linien, den Prozess in Verlauf der Spirale.
Dieses eigensinnige Porträt kam mir unmittelbar in den Sinn, als ich die Gemäldeserie „Self-Portraits“ von Martin Margiela von 2017 sah. Das Darstellungsprinzip ist die Verweigerung der Darstellung. Martin Margiela überklebt eine gemutmaßte Abbildung (seiner selbst) innerhalb eines Fotoframes, das einem Kontaktstreifen entnommen zu sein scheint. An dieser Stelle erscheint eine künstliche Holzfläche (Formica) und ihre Maserung, die den Blick auf ein dahinter zu vermutendes Foto zu verbarrikadieren scheint. Seitlich bleiben die gezahnten Löcher des Filmstreifens sichtbar, wie sie beim analogen Fotografieren zum Transport in der Kamera auftreten.
Wenn man in Archiven großer Fotografen deren Kontaktabzüge sichtet, erfasst man schnell, dass die vorgenommene Auswahl, welches der Fotos zu einer Veröffentlichung erkoren wird, durch die Setzung von kleinen Punkten gekennzeichnet, oder, noch radikaler, mittels Durchkreuzen einer verworfenen Abbildungen markiert ist. In beiden Fällen bleiben aber alle getätigten Aufnahmen eines analogen 36 Aufnahmen umfassenden Filmstreifens im Kontaktbogen sichtbar.
Insofern ist die Art und Weise, wie nun Martin Margiela die Sichtbarkeit einer Darstellung verweigert, noch radikaler. [...] Das aufgetragene, gefundene künstliche Holz lässt das Bild kunsthistorisch unmittelbar als trompe l’oeil erscheinen, als Augentäuschung, als Sinnestäuschung und damit als Spiel mit der Wirklichkeit. Man muss sehen, das Gesehene genau prüfen, um zu erkennen, dass es einer anderen Wirklichkeit entstammt. Das gefundene, eigentlich verworfene Material wird in seiner ursprünglichen Bedeutung neu definiert und in diesem anderen Zusammenhang als Bild veredelt. Es ist die Darstellung vor einer Darstellung. Es ist ein surreales Bildprinzip. Es ist das Porträt seiner selbst.
Das Aufeinandertreffen so verschiedener Materialien wie Zelluloid und Holzfurnier, gebunden an den Titel „Self Portrait“, verkörpert den Inbegriff der seit Jahren gelebten Strategie Martin Margielas, als Person unsichtbar und als Künstler abwesend zu sein. Aber das Werk ist er. Und darin ist er immer da. [...]
translation In 1929, Black Sun Press in Paris published James Joyce’s Tales Told of Shem and Shaun: Three Fragments from Work in Progress. It is an important book because it defines literature as a fragment and process. The frontispiece precedes the publication with an informative portrait of the author by Constantin Brancusi — arguably the earliest abstract portrait of a prominent personality. Brancusi depicts Joyce as three vertical lines of varying lengths combined with a spiral on the work’s right-hand side that moves inward in a clockwise direction. Only nonfigurative forms are used here to represent a concrete person. Even within Brancusi’s body of work, this radical representation of Joyce’s portrait goes beyond the mere abstraction of the shape of a head. And yet this graphic work by Brancusi captures the character of Joyce — the lines achieve openness and finite-infinite fragmentariness while the spiral’s movement implies process. |
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DISTANZ VERLAG
Gardens of Now, 2022
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excerpt In 1929, Black Sun Press in Paris published James Joyce’s Tales Told of Shem and Shaun: Three Fragments from Work in Progress. It is an important book because it defines literature as a fragment and process. The frontispiece precedes the publication with an informative portrait of the author by Constantin Brancusi — arguably the earliest abstract portrait of a prominent personality. Brancusi depicts Joyce as three vertical lines of varying lengths combined with a spiral on the work’s right-hand side that moves inward in a clockwise direction. Only nonfigurative forms are used here to represent a concrete person. Even within Brancusi’s body of work, this radical representation of Joyce’s portrait goes beyond the mere abstraction of the shape of a head. And yet this graphic work by Brancusi captures the character of Joyce — the lines achieve openness and finite-infinite fragmentariness while the spiral’s movement implies process. |
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